Voreingenommenheit

Wie ich mich in einem Menschen irrte.

Ein Retouren-Dienstleister, mit dem wir jahrelang zusammengearbeitet haben, ist insolvent. Als ich von der Nachricht erfuhr, lagen noch ca. 1.000 Retouren von uns in deren Lager.

Da jedoch schon alle Mitarbeiter entlassen waren und keine weiteren Retourenaufbereitungen und Verkäufe stattfanden, blieb keine andere Möglichkeit, als dass ich mich um die Abholung und Verwertung der Retouren selbst kümmerte.

Um die Abholung zu planen und eine insgesamt 10-stündige Fahrt mit einem Transporter zu organisieren, musste ich mit dem ehemaligen Gründer der insolventen Firma einen Termin vereinbaren und absprechen, in welchem Zustand die Retouren waren, wie sie verpackt sind und ob eine Hebebühne, ein Gabelstapler, Paletten, Kartonnage etc. vorhanden waren.

Die Korrespondenz verlief jedoch sehr ernüchternd. Auf zahlreiche E-Mails bekam ich keine Antworten, und meine Anrufe wurden wochenlang weggedrückt.

Dann kam eine Massen-E-Mail an alle Gläubiger und ehemaligen Kunden, in der Abholtermine bekannt gegeben wurden. Ein Bekannter von mir fuhr hin, fand jedoch vor Ort niemanden vor und konnte somit seine Produkte nicht mitnehmen.

Es breitete sich Frustration aus, bei mir und auch bei allen anderen betroffenen Händlern. Einige sprachen sogar bereits von einer Sammelklage gegen den ehemaligen Gründer. Doch weiterhin meldete sich niemand.

Dann eines Tages kam doch noch auf meine E-Mail voller Fragen ein “werde morgen um 14uhr da sein, lg”. Ich beschloss einen Transporter zu mieten und mir die Sache vor Ort selber anzuschauen.

Als ich im Lager ankam, war ich gespannt, was für einen Menschen ich antreffen würde. Ich stellte mir einen unorganisierten und verbitterten Mann vor, der Wut auf sich und seine Kunden hatte und die Schuld an der Insolvenz im Außen suchte. Ich stellte mich auf ein intensives Gespräch und eine mögliche Auseinandersetzung ein.

Doch wen ich antraf, war ein ganz anderer Mensch. Als ich das Lager betrat, reichte mir ein entspannt und freundlich aussehender Mann mit einem breiten Lächeln die Hand und stellte sich vor. Es war der ehemalige Geschäftsführer, der meine zahlreichen E-Mails ignoriert hatte. Neben ihm sah ich seine Tochter, die mit einem Spielzeugflugzeug spielte, das sie im Lager gefunden hatte.

Ich war verwirrt und fragte, ob er sich darüber bewusst sei, was er für ein Bild bei all den im Stich gelassenen Händlern hinterließ. Er antwortete gelassen, dass sein Handy den ganzen Tag lang ununterbrochen klingelte und sein E-Mail-Postfach überlaufen würde, während er gleichzeitig damit beschäftigt war, im Lager als einziger verbleibender Mitarbeiter Pakete zu schnüren, um die Abholung durch die Händler zu erleichtern.

Zudem war er nun nicht mehr Geschäftsführer, sondern die Verantwortung lag in den Händen des Insolvenzverwalters. Die Geschäfte selber weiterführen darf er nicht mehr, da er sich sonst rechtlich in die Bredouille bringen würde. Er müsste nicht einmal das Lager für die Abholungen öffnen und müsste auch keine Pakete packen. Er tat es dennoch aus Pflichtbewusstsein.

Er ist sich darüber bewusst, dass viele Menschen frustriert und wütend auf ihn sind. Jedoch steht er vor der Entscheidung, entweder den ganzen Tag E-Mails zu beantworten und Menschen zu besänftigen oder den ganzen Tag Produkte zu packen und zu schauen, dass möglichst viele Händler ihre Ware bekommen. Er hat sich für Letzteres entschieden.

Es gab viel zu tun, und wir machten uns an die Arbeit. Wir halfen uns gegenseitig beim Packen und Palettieren während er mir seine Geschichte und über die Hintergründe der Insolvenz erzählte. Nach zwei Stunden gemeinsamer Lagerarbeit konnte ich ihm nicht mehr böse sein. Ich verstand, dass eine Insolvenz jeden erwischen kann, und es nicht immer möglich ist, in so einer Situation allen gerecht zu werden.

Als mein Transporter mit fünf Paletten gefüllt war, bedankte ich mich und verabschiedete mich mit dem Wunsch, dass er möglichst unbeschadet aus der Sache wieder herauskommt.

Es inspirierte mich, wie locker und selbstbewusst er den Insolvenzvorgang abwickelte und mit der Belastung umging. Er strahlte trotz der äußerst schwierigen Situation Leichtigkeit und Freude aus, insbesondere im Umgang mit seiner Tochter.

Dieser Tag wird mir für schwierige Zeiten ein Referenzbild bleiben.

Friedemann

Wie fandest du diesen Letter?

Login oder Abonnieren um an umfragen teilzunehmen.